Anlässlich des 800jährigen Jubiläums entstehen auf Initiative der drei Provinziäle des 1. Ordens 12 Kurztexte, die später auch einmal als Büchlein erscheinen sollen. Bis dahin können sie in allen franziskanischen Medien benutzt werden. Wir haben die Erlaubnis bekommen – vielen Dank dafür! – diese Texte auch bei uns zu veröffentlichen.
Zum Leben eines Franziskaners gehören ganz wesentlich die Seelsorge und die Caritas, also die persönliche und fürsorgliche Hinwendung zum Nächsten. Das war für die Menschen des hohen Mittelalters etwas Neues. Die Mönche, die sie bislang kannten, lebten normalerweise weltabgewandt in einer Klostergemeinschaft, um intensiv für ihr eigenes Heil zu beten und für das Kloster zu arbeiten. Diese Art des Mönchslebens bringt die bekannte Formel „ora et labora“, bete und arbeite, auf den Punkt. Franziskus und seine Gefährten hatten weitergehende Vorstellungen. Sie entdeckten für sich das Leben der Apostel Jesu, denen sie nachfolgen wollten. Wie ihre Vorbilder, zogen die Brüder durch die Welt, um allen Menschen die frohe Botschaft des Evangeliums zu verkünden. Es ging ihnen nicht allein um ihr eigenes Heil, sondern um das Heil aller Menschen, um das sich die Brüder sorgten. In der Praxis bedeutete dies, dass die Brüder zu den Leuten in die Städte zogen, ihnen in verständlicher Sprache predigten und schließlich unter ihnen wohnten, damit sie Vertrauen gewinnen konnten. Denn es war Franziskus wichtig, den Aposteln gleich, das Evangelium einerseits zu verkünden, es andererseits auch vorzuleben. In der vorläufigen Regel formuliert Franziskus 1221 sehr prägnant: „Alle Brüder sollen durch Werke predigen.“
Aus der Chronik des Jordan von Giano erfahren wir, wie das im Alltag der ersten Brüder in Deutschland aussah: Während in der Stadt tagsüber einige Brüder in deutscher Sprache der Bevölkerung auf den Plätzen oder in lateinischer Sprache dem Diözesanklerus im Dom predigten, lebten andere mit den Aussätzigen vor der Stadt zusammen. Beispielsweise hielt 1223 der neu ernannte Provinzialminister Albert von Pisa sein erstes Kapitel „bei den Aussätzigen vor den Mauern“ der Stadt Speyer. Als die Franziskaner im Jahr darauf nach Erfurt kamen, fanden sie „in der Amtswohnung des Priesters für die Aussätzigen außerhalb der Stadtmauern“ eine erste Unterkunft. So lebten die Brüder zwar oftmals freiwillig arm unter den unfreiwilligen Armen, doch wandten sie sich ebenso an die Reichen und damit an die Mächtigen.
Ihre erste „Adresse“ bei ihrer Ankunft in einer Stadt war häufig der Bischof, der ihnen die Erlaubnis zu predigen und sich niederzulassen erteilte. Doch suchten auch die kirchlichen und weltlichen Obrigkeiten die Franziskaner auf. Sie erhofften sich von ihnen, dass sie das religiöse Leben in den wachsenden Städten belebten, was bisher in den Händen oft mangelhaft ausgebildeter und zudem schlecht bezahlter Pfarrgeistlicher lag. Diese konnten meist gezwungenermaßen um ihren Unterhalt bemüht, den Bedürfnissen einer vielfältigen städtischen Bevölkerung nur bedingt gerecht werden. Allerdings wuchsen mit der Zeit auch die Ansprüche an die Brüder, wie Jordan von Giano exemplarisch zu berichten weiß:
„Auf eine Bitte des Grafen Ernst wurden vier Laienbrüder nach Mühlhausen geschickt. Er wies ihnen ein neues, allerdings noch ungedecktes Haus mit einem anliegenden kleinen Garten zu. Bis sie das Haus decken und das Gärtchen einzäunen könnten, brachte er sie auf der Burg in einem Keller unter. Darin beteten diese Brüder, aßen, nahmen Gäste auf und schliefen. Und weil die Brüder als Laien mit dem Keller zufrieden waren, konnten sie in anderthalb Jahren das Haus nicht decken und das Gärtchen nicht einzäunen. Als daher der Graf keinen Forschritt sah, begann er, ihnen seine Hand zu entziehen. Und weil die Brüder nichts hatten, womit sie das Haus decken oder den Garten einzäunen konnten, zogen sie notgedrungen ab.“
Hier zeigt sich das Dilemma, in das die ersten Brüder nicht nur in der thüringischen Reichsstadt gerieten. Ihr materiell anspruchsloses, aber im Glauben ernsthaftes Leben konnte missverstanden werden und enttäuschte deshalb manche Erwartungen. Derweil wurden die Stimmen unter den Brüdern lauter, die vom Papst unterstützt forderten, dass der Orden sein Predigt- und Seelsorgeangebot ausweiten solle. Konkret sollten die Predigten anspruchsvoller und vielseitiger sowie auch Sakramente gespendet werden. Um den Gläubigen zu predigen, die Beichte abnehmen zu können, ihnen die Kommunion zu spenden oder sie ihren Wünschen gemäß auf dem Klosterareal zu beerdigen, bedurfte es grundsätzlich eines Priesterbruders.
Dementsprechend nahm die Zahl der Priester im Orden stetig zu, während die Laienbrüder immer mehr an den Rand und schließlich aus dem Orden gedrängt wurden. Ebenso reichten die einfachen Unterkünfte nicht mehr aus. Um Messen zu lesen, Beichten zu hören oder Predigten zu halten, wurden bedarfsgerechte Kirchen und Klöster gebaut. Kurz zusammengefasst: Die Franziskaner reagierten auf die Nachfrage der Gläubigen, die wiederum mit ihren Spenden, Schenkungen und Stiftungen die zunehmenden Anforderungen und Bedürfnisse der Franziskaner erfüllten. Was viele Gläubige ausgiebig nutzten, wurde für den Pfarrklerus ein wachsendes Ärgernis. Nicht zu Unrecht fürchtete dieser um seine Rechte und Einkünfte.
Den Auseinandersetzungen zum Trotz konnten in wenigen Jahrzehnten die Grundlagen für eine dauerhafte und umfassende seelsorgliche Versorgung der Gläubigen in den Städten, und nach und nach auch des Umlandes, gelegt werden. Im Spätmittelalter predigten Franziskaner vielerorts nicht nur vor oder in der eigenen Konventskirche, sondern auch in anderen Stifts-, Dom- oder Pfarrkirchen. Sie betreuten Zünfte und Bruderschaften an ihren Kirchen, stellten Beichtväter an den Höfen des Adels und der Landesherren oder übernahmen die Betreuung von Pilgerinnen und Pilgern an Wallfahrtsorten.
Bernd Schmies
Fachstelle Franziskanische Forschung